Säkularer Buddhismus – Ein Klärungsversuch

diskussion säkularer buddhismus

Von Hendrik Hortz

Frank Hendrik Hortz ist Philosoph, Religions- und Kulturwissenschaftler. Er ist Herausgeber und Chefredakteur des buddhistischen Magazins Ursache\Wirkung.

Säkularer Buddhismus ist immer wieder Gegenstand von Kontroversen. Doch, was ist säkularer Buddhismus eigentlich und ist die Kritik an ihm berechtigt? Ein Klärungsversuch.

Dieser Essay basiert im Wesentlichen auf einem Vortrag, den ich am 23. Februar 2020 in Berlin im Rahmen des überregionalen Einzelmitglieder-Treffens der DBU (Deutsche Buddhistische Union) gehalten habe. Der hier vorliegende Text stellt eine Bearbeitung des Redemanuskripts dar – auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der anschließenden Diskussion. Außerdem enthält er ergänzend einen Exkurs: „Wiedergeburt und Karma aus säkularer Sicht“.

Es sei vorausgeschickt, dass die folgende Betrachtung nicht erschöpfend ist. Es gibt viel mehr zu sagen. Dies würde aber den Rahmen eines Essays sprengen. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass die folgenden Ausführungen, was säkularer Buddhismus ist, meine Sicht auf ihn darstellt. Ich kann selbstverständlich keineswegs für jeden säkularen Buddhisten sprechen. Dennoch bin ich mir sicher, dass eine angemessene große Schnittmenge zwischen dem, was ich ausführe, und den Überzeugungen anderer säkularer Buddhisten besteht.

Wenn ich hier das Wort „säkular“ verwende, dann abgeleitet vom lateinischen „saeculum“: „Zeit“, „Zeitalter“ oder auch „Jahrhundert“, im Sinne ein konkretes Zeitalter betreffend.

Säkularer Buddhismus positiv gedeutet

In der Regel wird säkularer Buddhismus sowohl von dessen Vertretern als auch von seinen Kritikern negativ definiert: „Säkularer Buddhismus ist nicht …“, „Säkularer Buddhismus verzichtet auf …“, „Säkularer Buddhismus lehnt ab …“. Mit dieser Perspektive ist zwar ein Rahmen abgesteckt, aber wir wissen dann noch immer nicht, was er ist, sondern lediglich, was er nicht ist. Die Negation nährt zudem das Vorurteil, säkularer Buddhismus sei in irgendeiner Weise ein beschnittener Buddhismus, eine Art verkürztes Dharma. Diese Annahme ist aber grundfalsch. Das will ich später noch zeigen.

Säkularer Buddhismus hat folgende Basis: Die drei Daseinsmerkmale, „anicca“, alle Erscheinungen sind unbeständig, alle Erscheinungen sind „dukkha“ unterworfen, wörtlich „schwer zu ertragen“, sowie „anatta“, alle Dinge sind ohne Selbst, das Wissen um das „Bedingte Entstehen“ und die Idee eines dreiteiligen Wegs, „prajna“ – Einsicht, „sila“ – Ethik und „samadhi“ – Versenkung beziehungsweise Geistestraining. Diese Basis enthält keinerlei Glaubenselemente oder Religion. Sie ist jedem zugänglich, der ausreichend genau beobachtet und in der Lage ist, präzise zu denken. Diese Basis ist kulturunabhängig und nach menschlichem Zeitverständnis zeitlos.

Was säkularen Buddhismus und traditionellen Buddhismus verbindet

Säkularer Buddhismus ist im besten Sinne traditioneller Buddhismus. Das Adjektiv „traditionell“ ist aus dem lateinischen „tradere“ und „traditio“ abgeleitet. Es bedeutet wörtlich „hinüber-geben“ und ebenso „nach überlieferten Handlungsmustern agieren“, weshalb säkularer Buddhismus gleich in zweierlei Hinsicht ein traditioneller Buddhismus ist: Er bezieht sich oft auf die frühesten ausformulierten Überlieferungen des Dharma. Säkularer Buddhismus sucht sie aktiv in den frühbuddhistischen Schriften und verwendet hierzu die Werkzeuge, die die Textkritik, ein Teilbereich der Literaturwissenschaft, zur Verfügung stellt. Und er versucht eine unserer Zeit und Kultur angemessene Interpretation dieses Dharma. Damit handelt er, wie in der Vergangenheit alle buddhistischen Traditionen gehandelt haben. Sie fragten stets, was ist das Wesentliche des Dharma und sie interpretierten es an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit, für genau diesen Augenblick, um es für die Menschen greifbar zu machen – es ihnen zu „übergeben“.

Die großen heute noch lebenden buddhistischen Schulen, der Theravada, der tibetische Buddhismus und Zen, sind Ausdruck genau dieser Bemühungen. Der Widerstand einer Orthodoxie gegenüber dem säkularen Buddhismus liegt oft einem Missverständnis zu Grunde: Nämlich dem, dass die eigene Tradition überzeitlich und unveränderlich sei. Die Wahrheit ist aber, dass alle buddhistischen Schulen, die wir heute vorfinden, lediglich die konservierte Interpretation des Dharma einer bestimmten Epoche in einem bestimmten kulturellen Kontext darstellt. So war jeder traditionelle Buddhismus immer ein säkularer Buddhismus: auf sein Zeitalter bezogen.

Der sogenannte traditionelle Buddhismus im Westen ist außerdem längst im Sinne des jetzigen Zeitalters säkularisiert. Der Kontext, der die spezifischen Ausformungen des Dharma beeinflusst, verändert sich mit jeder Generation und mit jeder neuen Rezeption. Zen im Westen ist ein anderer als der, den wir in Japan vorfinden. Und es gibt neuere Synthesen, wie etwa die zeitgenössische Deutung des Buddhismus durch Thich Nhat Hanh. Zugegeben, das Vajrayana tut sich mit einer Säkularisierung etwas schwerer und wird wohl etwas länger benötigen. Aber dennoch: Ein Buddhismus im Westen ohne entsprechende kulturelle Einflüsse kann es im Grunde nicht geben.

Säkularer Buddhismus ist im besten Sinne also traditioneller Buddhismus und sogenannte traditionelle Buddhismen waren in der Vergangenheit ebenfalls säkularer Buddhismus. Sie haben sich heute überdies durch ihre Rezeption im Westen – manchmal mehr, manchmal noch etwas stockend – bereits wiederum säkularisiert.

Kritik am säkularen Buddhismus

Die Kritik am säkularen Buddhismus geht in zwei Hauptrichtungen. Hierzu möchte ich beispielhaft auf zwei bekannte Kritiker eingehen: Alfred Weil, ehemaliger Vorsitzender der DBU und DBU-Ehrenrat, und Bikkhu Bodhi, ein bekannter US-amerikanischer Theravada-Mönch und -Lehrer.

Häufig wird behauptet, säkulare Buddhisten seien auch nur Gläubige. Ihr Glauben beziehe sich aber auf die Ergebnisse der Wissenschaft und nicht auf metaphysische Inhalte. So lesen wir in Alfred Weils Essay „Demontage 2.0“, dass wir als Nichtwissenschaftler nur den Ergebnissen der Wissenschaft glauben können, aber diese nicht nachvollziehen. Außerdem sei „die Geschichte der Wissenschaft (…) auch immer eine Geschichte ihrer Irrtümer. Was gestern unumstößliche Wahrheit war, ist heute nachweislich falsch.“ Er schließt daraus, dass jenes Vertrauen in die Wissenschaft nicht gerechtfertigt sei und säkulare Buddhisten das eine Glaubenssystem gegen das andere ausgetauscht haben.

Weils Auffassung ist schnell widerlegt: Es ist kein Defizit von Wissenschaft, dass sich ihre Erkenntnisse ständig überholen, es ist ihre Stärke. Es ist zwingender Teil des Konzepts empirischer Wissenschaft. Im Gegensatz zu metaphysischen Behauptungen, die – einmal formuliert – immer Bestand haben sollen. Auch steht hier nicht etwa das Vertrauen in die Ergebnisse der Wissenschaft im Raum, sondern das Wissen darum, dass die Methodik zu verlässlichen Ergebnissen führt. Und diese Methodik ist für jedermann jederzeit nachprüfbar.

Stellen wir uns zum Beispiel einen Korb mit zehn Äpfeln vor. Wir nehmen jeweils einen Apfel heraus und lassen ihn los. Das machen wir nach und nach mit allen Äpfeln. Wir alle wissen, die Äpfel werden in einer signifikanten Anzahl zu Boden fallen. Daraus können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schließen, dass sich – laienhaft ausgedrückt – feste Körper, wie zum Beispiel Äpfel, unter bestimmten Bedingungen immer zum Boden hin orientieren. Um dies zu begreifen, muss man das newtonsche Gravitationsgesetz, das postuliert, dass jeder Massenpunkt auf jeden anderen Massenpunkt mit einer anziehenden Gravitationskraft einwirkt, nicht im Detail verstehen. Man muss nur grundsätzlich die Methodik nachvollziehen. Und das können wir alle. Empirische Wissenschaft ist eine Methodensammlung, eine Art Werkzeugkasten, mit jederzeit überprüfbaren Instrumenten, die sich bewährt haben, um zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Abgesehen davon werden fundamentale wissenschaftliche Erkenntnisse in der Regel nicht widerlegt – dies kommt eher selten vor –, sie werden vielmehr durch spätere Forschung ausdifferenziert. Dies alles hat mit Glauben an irgendetwas nichts zu tun.

Der zweite Hauptkritikpunkt ist, säkularer Buddhismus sei ein verkürzter Buddhismus, ein amputiertes Dharma. Es würden zentrale Elemente fehlen. Beispielhaft möchte ich dies an einem Vortrag von Bikkhu Bodhi zeigen, der in gekürzter Fassung im DBU-Magazin „Buddhismus Aktuell“, Ausgabe 4/2018, erschienen ist.

Wir lesen dort: „Praktizierende aller klassischen buddhistischen Schulen teilen ein Grundverständnis von Wiedergeburt und Karma, das als moralische Kraft Konsequenzen hat, die weit über das gegenwärtige Leben hinausgehen. Säkular buddhistische Ansätze beschränken sich dagegen auf unsere unmittelbare existenzielle Situation, ohne sich auf Annahmen über vergangene und zukünftige Leben zu stützen.“

Bikkhu Bodhi stellt zunächst seine Deutung des Buddhismus vor, die er ein „Grundverständnis“ nennt. Er bezieht sich auf eine konkrete Vorstellung von Wiedergeburt und Karma. Angeblich würden alle Buddhisten dieses Grundverständnis teilen. Weil säkularer Buddhismus dieses Grundverständnis nicht teilt, sei er sozusagen gar kein richtiger Buddhismus.

Das ist unsauber! Er nimmt die Gesamtheit der Praktizierenden ungefragt in Geiselhaft, indem er behauptet, alle Buddhisten würden sich seiner Deutung über Wiedergeburt und Karma anschließen, um dann einen säkularen Buddhismus auszugrenzen. Die Feststellung alle „klassischen buddhistischen Schulen“ teilen seine Vorstellung von Wiedergeburt und Karma als moralische Instanz, ist schlicht falsch.

Alfred Weil schlägt in dieselbe Kerbe. Er schreibt über säkularen Buddhismus: Er sei „bei weitem nicht genug. Nicht genug jedenfalls für den (…) der das Dasein selbst als Gefangenschaft empfindet und heraus will.“ Er bezieht sich hier ebenfalls auf die Vorstellung, man sei in einer endlosen Kette von Wiedergeburten gefangen. Und er kritisiert, dass säkularer Buddhismus für dieses Problem keine Lösung anbiete.

Ja, richtig. Für das genannte Problem bietet säkularer Buddhismus keine Lösung, weil es für ihn kein Problem darstellt. Ein säkularer Buddhismus schließt sich der genannten Deutung von Wiedergeburt und Karma nicht an. Für ein nicht vorhandenes Problem nach einer Lösung zu suchen, ergibt keinen Sinn. Die angestrebte Demontage des säkularen Buddhismus gelingt deshalb nicht.

Exkurs: Wiedergeburt und Karma aus säkularer Sicht

Die säkulare Sicht auf Wiedergeburt destilliert sich in dem Begriff „Wiederwerden“, Pali: „punabbhava“: „punabbhava“ wird landläufig mit „Wiedergeburt“ übersetzt. Diese Übersetzung führt dann aber zu dem bekannten Missverständnis, dass ein Bewusstseinskern von einem Subjekt auf das andere über die Grenze des Todes hinaus hinübergehen kann.

Buddhismus weiß, alle Erscheinungen sind bedingt, das heißt, sie sind durch unzählige Voraussetzungen prädisponiert. Diese sind die Basis von allem, was wieder und wieder auf materieller sowie auf geistiger Ebene wird. Endet die Existenz von etwas Bestehendem, löst es sich auf und aus seinen Bestandteilen entsteht Neues. Wir alle sind Resultate vorheriger Existenzen und Verhältnisse. Wir sind auf diese Weise mit allem, was je existiert hat, was jetzt existiert und je existieren wird, verbunden. Auf materieller Ebene sind wir aus den Molekülen, aus denen vor uns andere Dinge bestanden, Felsen, Bäume, Tiere, andere Menschen, was auch immer, gemacht. „Wir alle sind Sternenstaub“, heißt es oft poetisch. Und das ist richtig.

Geistig sind wir unter anderem durch die Erfahrungen unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern usw. geprägt. Wir wissen nicht erst seit heute, dass Traumata aber auch positive Eigenschaften, die sich unsere Vorfahren angeeignet haben, über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das ist uraltes Menschheitswissen. Neurologen und Psychologen bestätigen dies heute. Wenn wir durch die liebevolle, zärtliche Aufmerksamkeit der Urgroßmutter für ihre Kinder, die deshalb selbst zu empathischen Wesen heranreifen konnten und dies wiederum an ihre Kinder weitergaben, ebenfalls die Gelegenheit haben, aus psychologischer Sicht zu gesunden Persönlichkeiten werden, sind wir deshalb aber nicht die reinkarnierte Großmutter. Die Großmutter hat durch ihr Handeln lediglich einen Teil der Voraussetzungen für das geschaffen, was die Enkel heute sind. So pflanzen sich einzelne Bewusstseinsinhalte, wie etwa Verhaltensmuster, über Generationen hinweg fort. Aber das Bewusstsein eines Einzelnen inkarniert nie als Ganzes in eine andere Person. Herr Müller wird nicht zu Frau Maier, nie. Kann er gar nicht, wie ich noch zeigen werde.

Aus Sicht der Neurologie und Psychologie ist Bewusstsein in seiner engsten Definition die Wahrnehmung des eigenen Ich-Konstrukts. Wir können sagen: „Ich bin!“ Ein Ich-Konstrukt entsteht durch die Verarbeitung von Sinneseindrücken und ihrer Interpretation auf der Basis unserer Hirnfunktionen. Hören Verarbeitung und Interpretationsarbeit auf, erlischt das Bewusstsein. Das passiert, wenn wir sterben. Buddhismus beschreibt dies ebenso: Bewusstsein ist die Summe der sogenannten Skandhas, der Empfindungen, der Gefühle, der Wahrnehmung, der eigenen Interessen und Sehnsüchte und so weiter. Das, was wir für unser Ich, unser Selbst, halten, ist einzig und allein eine Ausdeutung der genannten Eindrücke. Diese befinden sich jederzeit im fluss.

Die empirische Zeitwahrnehmungsforschung geht davon aus, dass das, was wir als Gegenwart empfinden, unser gegenwärtiges Sein, jeweils eine Einheit von 2,7 Sekunden umfasst. Wenn man so will, stirbt unser Ich in diesem Intervall und wird aus den Voraussetzungen des Vorangegangenen immer wieder neu. Da ist nichts Festes, kein Kern, der weitergegeben werden könnte. Das ist mit dem buddhistischen „anatta“ gemeint. Die Voraussetzungen oder Bedingungen für die jeweilige neue Ich-Konstruktion sind das Karma. Pali „kamma“, bedeutet übersetzt „Wirken“ oder „Tat“. Karma sind also jene Voraussetzungen, die zum gegenwärtigen Sein geführt haben und gegenwärtiges Sein wiederum erzeugt Karma für künftiges Sein.

Magische Weltbilder

Die Diskussion um säkularen Buddhismus spitzt sich in der Regel genau auf das Themenfeld Wiedergeburt und Karma zu. Die unterschiedlichen Zugänge erzeugen Konflikte. Dabei ist es ohne Belang, ob man Wiedergeburt orthodox oder säkular interpretiert, meine ich, solange die eigene Haltung hier nicht dem Fortschreiten auf dem buddhistischen Pfad behindert.

Denn wenn wir zur Meditation auf dem Kissen sitzen, ist es gleichgültig, ob wir daran glauben, dass unser Bewusstsein nach dem Ableben einen neuen Wirtskörper sucht oder ob wir davon ausgehen, dass unser Bewusstsein in der Folge erlischt. In dieser Situation, im Hier und Jetzt, sind wir nur mit einem konfrontiert: mit uns selbst – oder mit dem, was wir für unser Selbst halten. Wir ringen mit Schmerzen im Rücken und in den Beinen, mit einem ruhelosen Geist und vielleicht damit, dringend pinkeln zu müssen.

Aus meiner Sicht verläuft an völlig anderer Stelle eine Grenze. Nämlich bei der Frage, was das Dharma mit magischen Weltbildern zu schaffen hat. Meiner Kenntnis nach hat Buddha jede Art von Aberglauben abgelehnt. So soll er, so lesen wir es im Mangala-Jātaka 87, ein Streitgespräch mit einem Brahmanen geführt haben, der von Mäusen zernagte Kleider für ein Unheil bringendes Zeichen hielt. Genauso habe er Astrologie eine klare Absage erteilt, wie uns das Digha-Nikaya 2,59 aufklärt. Leider fanden solche Ideen – wie so vieles andere – später dennoch Eingang in den Buddhismus. Kaum ein asiatischer Buddhist etwa, der nicht an Geister glaubt oder irgendeinen Aberglauben pflegt.

Einer der Ausgangspunkte der Überlegungen Stephen Batchelors, einem der wohl populärsten Ideengeber eines säkularen Buddhismus, basiert auf einem seiner Erlebnisse in Indien. Die Geschichte ging, glaube ich, in etwa so – ich habe sie nicht noch einmal nachgelesen: Der Dalai Lama hatte sich angekündigt. An dem Ort, an dem er erwartet wurde und an dem sich bereits viele Menschen eingefunden hatten, zog ein Unwetter auf. Dunkle Wolken erschienen am Horizont. Wind kam auf. Vielleicht blitzte und donnerte es bereits. Ein hochrangiger tibetischer Mönch begann nun, Zaubersprüche gegen die Gewitterfront zu rufen und Rituale durchzuführen, um die Geister, die das Gewitter zu verantworten hätten, zu vertreiben. Dies gelang ihm allem Anschein nach, denn die dunklen Wolken verzogen sich. Später kritisierte ein anderer hochrangiger tibetischer Geistlicher diese Praxis, weil durch sie die betreffenden Geister Schaden genommen hätten.

Nun, ich bin mir nicht sicher, ob der Glaube an Geister in irgendeiner Weise hilfreich sein kann. Was ich aber weiß, ist, dass wir im Westen jeglichen Glauben an Geister und andere präwissenschaftlichen Erklärungen der uns umgebenden Phänomene hinter uns gelassen haben. Ich sehe keinen Grund, zu solchen Vorstellungen zurückzukehren.

Mystik

Wir wollen zum Ende hin einen kurzen Seitenblick auf die Mystik werfen. Säkularem Buddhismus wird vorgeworfen, er sei kalt und rational. Er biete keinen Platz für mystisches Erleben. Das ist falsch.

An dieser Stelle benötigen wir kurz die Unterstützung von Schelling und Hegel. Schelling – wie viele andere auch – geht bei der Deutung, was Mystik ist, vom altgriechischen „to mystikon“ aus: „Alles, was verborgen ist.“ Er schreibt: „Das vorzugsweise Mystische ist gerade die Natur“. Hegel ergänzt: „Alles Vernünftige ist somit zugleich als mystisch zu bezeichnen“, das heißt, es gehe zwar „über den Verstand hinaus“ ohne aber deswegen „dem Denken unzugänglich zu sein“. Was Schelling und Hegel hier meinen, ist, dass das eigentlich Mystische das ist, was wir zwar mit dem Verstand nicht wirklich begreifen können, aber es lässt sich durch unser Denken dennoch beschreiben. Und dafür ist die Natur das beste Beispiel.

Betrachten wir ein Atom. Ein Atom besteht aus einem Atomkern sowie Elektronen, die sich um den Kern herum bewegen, sie bilden die Hülle des Atoms. Der Kern ist positiv geladen, die Elektronen sind negativ. Atome sind die Bausteine, aus denen alle festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffe bestehen. Die Teilchenphysik weiß heute zwar von noch kleineren Bausteinen aber für das, was ich zeigen will, ist das klassische Atommodell ausreichend. Stellen wir uns jetzt ein Fußballstadion vor: eine riesige Arena. In der Mitte dieses Stadions liegt ein Erdnusskern. Der entspricht hier in etwa der Größe eines Atomkerns. Am äußersten Rand des Stadions flitzen die Elektronen herum. Zwischen dem Atomkern und den Elektronen befindet sich nichts, Leere! Ein Atom ist im Wesentlichen leerer Raum und Energie. Wie wir wissen, besteht alles, was wir als Materie kennen, aus Atomen, unser gesamtes Universum. Im Rückschluss können wir deshalb sagen, dass alles, inklusive uns selbst, gleichsam leerer Raum ist – und Energie. Um auf Schelling und Hegel zurückzukommen: Wir können dies gar nicht verstehen, nicht wirklich begreifen, aber wir können es beschreiben.

Ich benötige an dieser Stelle keine metaphysischen Spekulationen, die eine Mystik begründen. Mir ist das Beschriebene Mystik genug. Die Natur ist Mystik. Ein naturalistischer Buddhismus, und säkularer Buddhismus ist naturalistisch, ist somit ein mystischer Buddhismus per se.

Die Bedeutung des säkularen Buddhismus für den Westen

Ich bin der Überzeugung, dass viele von uns säkulare Buddhisten sind, ohne dass sie sich so nennen würden. Säkularer Buddhismus ist längst in allen buddhistischen Traditionen angekommen. Er basiert, wie zu Anfang gezeigt, auf der Grundlage der drei Daseinsmerkmale, auf die Einsicht in das Bedingte Entstehen und einem dreiteiligen Weg zur Befreiung von Dukkha. Er ist naturalistisch, was bedeutet, dass er magische Weltbilder, also präwissenschaftliche Deutungen von Phänomenen, unberücksichtigt lässt.

Wir können mit einem säkularen, naturalistischen Buddhismus weite Kreise der säkularen Gesellschaft erreichen, weil er der Deutung dessen, was die Gesellschaft Wirklichkeit nennt, nicht nur entspricht, sondern diese Sicht konstruktiv erweitert. Säkularer Buddhismus kann all jene ansprechen, die geprägt sind durch einen modernen Skeptizismus, die aber dennoch ein spirituelles Bedürfnis und die Sehnsucht nach Befreiung verspüren. Ich denke dabei auch an die vielen Menschen, die durch ihre religiöse Sozialisation oder aus punktuellen Erfahrungen mit christlichen Kirchen traumatisiert sind. Ihnen bietet ein Buddhismus, der erst einmal frei von allen Elementen einer konkreten Tradition ist, ihrer Rituale, einer bestimmenden Ästhetik, vor allem aber frei vom Ballast einer 2.500 Jahre währenden Religionsgeschichte, einen Anknüpfungspunkt.

Denn – und das kann jeder erfahren – buddhistische Praxis funktioniert. Immer. Sie funktioniert jenseits von Dogmen, Tradition und Ritual. Man kann Buddhismus eingebunden in eine alte Zenlinie oder unterrichtet von einem tibetischen Tulku praktizieren. Muss man aber nicht. Buddhistische Praxis funktioniert trotzdem.

Deshalb ist ein Buddhismus, der darauf ausgerichtet ist, nichts ungeprüft anzunehmen, hilfreich und begrüßenswert. Er kann Menschen ansprechen und ihnen heilsame buddhistische Praxis vermitteln, die vom Esoterischen der traditionellen Buddhismen abgestoßen sind – und ich behaupte, dass dies sehr, sehr viele Menschen sind. Zumal der Hinweis, nichts ungeprüft anzunehmen, eine gute alte buddhistische Tradition darstellt, wenn ich das Kalama-Sutta richtig verstehe.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Ursache\Wirkung online am 2.3.2020. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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