Buddhas Achtfacher Pfad – eine säkulare Neuinterpretation

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Von Stephen Batchelor

STEPHEN BATCHELOR, ehemaliger Mönch und bekannter Autor. Er ist Vordenker des säkularen Buddhismus, einer zeitgemäßen Perspektive auf Buddhas Lehre, den Dharma. Er ist Mitbegründer des Bodhi College und lehrt weltweit.

Stephen Batchelors säkulare Neuinterpretation des Achtfachen Pfads für unsere heutige Lebenswelt

Die acht Glieder von Buddhas Achtfachem Pfad verglich der historische Buddha, Gotama in seiner Lehrrede  Bhavana Sutta (Anguttara Nikaya 7:71) mit acht befruchteten Eiern, die die Glucke mit ihren Füßen immer wieder dreht, wendet und neu anordnet, um sicherzustellen, dass alle Eier gleichermaßen warmgehalten werden. Stephen betont, dass es keine festgelegte Anordnung der acht Eier gibt und somit die Reihenfolge, in der die Glieder des Achtfachen Pfades traditionell dargestellt werden, nur eine von vielen möglichen ist.
Stephen schlägt eine andere Reihenfolge der Glieder der Achtfachen Pfads vor und bietet eine neue Interpretation jedes einzelnen Gliedes an:

1) Sichtweise (diṭṭhi)
2) Kreativität (sankappa)
3) Anwendung (vāyāma)
4) Achtsamkeit (sati)
5) Konzentration (samādhi)
6) Die eigene Stimme finden(vācā)
7) Schaffen (kammanta)
8) Überleben (ājīva)

Sichtweise (diṭṭhi)

Die Sichtweise, die den Achtfachen Pfad beseelt, ist der Mittlere Weg – eine integrierte, ausgewogene Art und Weise, in der Welt zu sein. Sie entspringt dem nicht-reaktiven Raum des Nirvana. Wir bringen unseren Geist zur Ruhe und lernen in einer Aufmerksamkeit und einem Gewahrsein zu verweilen, die nicht von unseren reaktiven Gewohnheiten bestimmt werden. Darüber hinaus sind wir nicht mehr in dichotomen Kategorien von die Dinge sind so oder nicht so, Sein oder Nicht-Sein, richtig oder falsch gefangen, sondern nehmen eine Perspektive ein, die offen für eine breite Palette von Antworten auf das Leben ist.

Vorstellungskraft (sankappa)

Der zweite Schritt auf dem Pfad besteht darin, einen freieren Bereich zu schaffen. Unsere Kreativität wird oft durch die herrschende Meinung, Vorlieben, Voreingenommenheit, Geschmack oder Gewohnheit beeinträchtigt oder gehemmt. Es ist mitunter schwierig, sich eine alternative Art des Sprechens, Denkens oder Handelns vorzustellen, Bekanntem und Vertrautem zu folgen ist verlockend bequem. Es geht darum, eine ethisch motivierte Vorstellungskraft zu kultivieren, die es uns erlaubt, neue Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Diese Vorstellungskraft vereint in sich, was wir benötigen, um als autonome, ethische Wesen zu handeln, um in unserem fantasievollen, kreativen, künstlerischen Leben aufzublühen, um uns in das Leiden anderer Personen hineinzuversetzen. Die Vorstellungskraft ist also die Umgebung, in der diese Art von Ethik funktioniert, die Ethik der Ungewissheit, weil wir nicht wirklich wissen können, was zu sagen oder zu tun angemessen ist. Diese Art von Ethik zu praktizieren bedeutet, sich die Art von Leben vorzustellen, die man führen möchte, sich die Art von Person vorzustellen, die man sein möchte, sich die Art von Gesellschaft und Lebenswelt vorzustellen, in der man leben und die man für zukünftige Generationen bewahren möchte.

Praktische Anwendung (vāyāma)

Wie schaffe ich Bedingungen, die dazu beitragen, die Art von Mensch zu werden, die ich sein möchte, die Art von Gemeinschaft zu bilden, die Art von Gesellschaft zu schaffen, die Art von Welt aufzubauen, in der ich, andere und auch zukünftige Generationen leben wollen? Indem ich die vierfache Aufgabe angehe – das Leiden umarmen, Reaktivität loslassen, das Aufhören der Reaktivität betrachten und einen ganzheitlichen Lebensweg kultivieren.

Achtsamkeit (sati)

Stephens Empfinden nach bilden Achtsamkeit und Konzentration nicht das Ende des Achtfachen Pfads, sondern vielmehr den Kern, das Herzstück all seiner Glieder, Schritte, Prozesse.
Wir brauchen Vergegenwärtigung, in der wir uns dessen bewusst sind, was vor sich geht, in der wir uns unseres Körpers bewusst sind, unserer Gefühle, unserer Geisteszustände, unserer Ideen, die uns inspirieren, aber auch derer, in denen wir uns verfangen. Somit wohnt dem Prozess der Kultivierung des Pfads eine kontinuierliche achtsame Präsenz inne.

Indem er die Glieder neu ordnet, so dass sie mit Arbeit und Überleben enden – anstatt mit Achtsamkeit (sati) und Konzentration (samādhi) – konzentriert sich Stephens säkulare Neuordnung des Pfades auf die Art und Weise, wie der Dharma uns hilft, unserer ungewissen Zukunft auf der Erde zu begegnen. Die Betonung von Arbeit und Überleben hebt die Herausforderung hervor, in einer Welt von “Zäunen, Mauern, Fliesen und Kieselsteinen” gemeinsam weiterzuleben.

Konzentration (samādhi)

Genauso verhält es sich mit meinem Fokus, mit dem, worauf ich verweile, wie ich meine Aufmerksamkeit sammle und mich auf das konzentriere, was für mich in diesem Leben wirklich wichtig ist.
Wir können uns als Achtsamkeit und Konzentration als die Umgebung, das Ambiente vorstellen, in dem sich diese Anwendung dieser Aufgaben entfalten kann.

Die eigene Stimme finden (vācā)

Wir brauchen Vorstellungskraft, Kreativität, Mut und die innere Stärke, um zu eigenen Überzeugungen zu finden, zu ihnen zu stehen und ihnen in unserer Kommunikation eine deutliche Stimme geben zu können. Diese Art von Stimme versucht den Inhalt dessen, was ich sage, mit der Art und Weise, wie ich es sage, in Einklang zu bringen. Die Klarheit der Formulierung, der Rhythmus und Tonfall meiner Ausdrucksweise spiegeln idealerweise das wider, was ich zu sagen versuche. Es geht darum, Inhalt und Form in Einklang zu bringen, eine Harmonie herzustellen. Dies ist auch mit einem Gefühl von Berufung verbunden und der Fähigkeit, diese Berufung zu hören, was mit nicht-reaktivem Gewahrsein und Konzentration eine Brücke zwischen der Stimme oder Rede und der Arbeit, dem nächsten Glied, schlägt.

Arbeit (kammanta)

Das, wozu wir berufen sind, ist unsere Arbeit, unser Schaffen, das, wofür wir uns engagieren, was am besten zu unseren Interessen, Werten und Fähigkeiten passt. Eine sinnvolle Arbeit ist für unser individuelles Wohlbefinden essenziell und auch dafür, ein Gefühl von Würde und Respekt in der Gesellschaft zu erlangen – menschliches Gedeihen, sich lebendig fühlen, ein sinnerfülltes Leben führen, indem man sich mit einer erfüllenden Aufgabe beschäftigt und sieht, dass die Bemühungen auch Früchte tragen. Im traditionellen Achtfachen Pfad ist die zentrale Bedeutung der Arbeit – kammanta – verloren gegangen und wurde in gute Handlungen umgewandelt, möglicherweise, weil Ordinierte als die traditionell betrachtet bestmöglich Praktizierenden im engeren Sinne keiner Arbeit nachgehen. Arbeit als Glied des Achtfachen Pfads in einer säkularen Umgebung, ist ein weiter gefasster Begriff, bei dem es um ein Gefühl, vollkommen lebendig zu sein geht, darum dass, Befriedigung aus einer gut erledigten Aufgabe entsteht, ob es sich nun um die Arbeit im Büro, auf einer Baustelle, im Atelier, um die Erziehung von Kindern, das Heilen oder Pflegen von Kranken, Ausarbeiten philosophischer Ideen oder auch das Fokussieren der Aufmerksamkeit in der Meditation geht.

Überleben (ājīva)

Buddha hat einen Unterschied zwischen Arbeit und Lebensunterhalt gemacht – auf der einen Seite die Arbeit, zu der man sich im Leben berufen fühlt, auf der anderen Seite die Dinge, die wir erledigen müssen, um unsere Rechnungen zu bezahlen, um in der Gesellschaft, in der wir leben zu überleben. Traditionell wird ājīva mit Lebenserwerb übersetzt. Jjīva bedeutet übersetzt Leben und ājīva für das Leben, was im traditionellen Buddhismus mit Arbeit verbunden wurde – das, was wir tun, um zu überleben. Aber das ist es nicht, heutzutage trifft dies für viele von uns nicht mehr zu. Unsere Arbeit ist oft die Arbeit, zu der wir uns berufen fühlen, der wir uns leidenschaftlich widmen. Es geht nicht nur ums Überleben, es geht um menschliches Gedeihen, darum, die Art von Person zu werden, wie wir im Kontext der Gesellschaft, in der wir leben, sein wollen. Aber, wie viel Künstler oder auch Eltern erkannt haben, reicht das allein vielleicht nicht zum Leben. So muss ein Musiker beispielsweise zusätzlich unterrichten, um zu überleben, obwohl das nicht unbedingt das ist, was er tun will. Überleben meint, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen müssen, um dafür bezahlt zu werden, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im bestmöglichen aller Fälle deckt sich in privilegierten Gesellschaften wie der europäischen oder nordamerikanischen unsere Arbeit, zu der wir uns berufen fühlen, mit dem, was wir zum Überleben tun müssen. Viele gesellschaftlich und wirtschaftlich weniger privilegierte Menschen sind dazu gezwungen, ihr ganzes Leben lang nicht erfüllende Arbeit zu leisten, um in bitterer Armut überleben zu können. Indem der Buddha einen Unterschied macht zwischen Arbeit und dem, was wir tun müssen, um zu überleben, betont er das Spannungsfeld zwischen dem, was ich mit meiner Zeit zu tun wähle und dem, was ich mit meiner Zeit zu tun verpflichtet werde.

Der Buddha erkannte, dass man kein der Dharma-Praxis gewidmetes Leben führen kann, wenn man nicht genügend Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft hat. Heutzutage sehen wir, dass dies nicht ausreicht. Wir sehen angemessene Sicherheit, Bildung, Gerechtigkeit, Gesundheitsfürsorge, Rechte, Umweltschutz als überlebenswichtig an. Eine Kultur des Erwachens ohne die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist schwer vorstellbar.

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